Können Süßweine wirklich edel sein? Hierzulande ist das eine typische Frage. Dabei macht ein Blick in die Vergangenheit unmissverständlich klar: Süßweine galten immer als etwas ganz Besonderes. Die einfachen Weine waren stets trockene Weine. Nur hin und wieder schenkte die Natur den Trauben so viel Süße, dass nach der Gärung noch davon übrig blieb. Immer, wenn im Gärvorgang nicht alle Süße zu Alkohol umgesetzt wird, entstehen Süßweine. Die Produktionsmengen sind jedoch unbestimmt und in aller Regel minimal. Allein schon deshalb genossen Süßweine stets eine besondere Wertschätzung. Sie waren rar, begehrt und teuer. So wurden im 19. Jahrhundert die Riesling-Auslesen des Rheingauer Weinguts Robert Weil an viele Kaiser- und Königshäuser Europas geliefert und erzielten Preise, die diejenigen der berühmten Premier-Cru-Rotweine aus dem Médoc noch übertrafen.
Die Folgen von Wirtschaftswunder und Massenkonsum
Wirtschaftskrise und zwei Weltkriege führten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu großen Turbulenzen, die auch die Nachfrage für hochwertige Weine kräftig durcheinander wirbelten. Langfristig bedeutsamer – speziell für den Süßweinsektor – waren dann aber Entwicklungen in den 60er und 70er Jahren. Neue Techniken mit erheblichem Rationalisierungspotenzial erhielten Einzug in die Weinbergs- und Kellerarbeit. Die Ergebnisse dieser zunehmenden Industrialisierung der Weinproduktion sind bekannt: Die Erträge stiegen, die Weinqualität sank. Und als man dann auch noch begann, die Schwächen der Weine systematisch durch den Zusatz von Süße zu kaschieren, war ein historischer Tiefpunkt erreicht. Dabei schien die Rechnung zunächst sogar aufzugehen, denn der Nachfragetrend zu billigen süßen Weinen spielte den Winzern in die Karten.
Liebfrauenmilch als Imageträger
Neue Techniken erlaubten es, massenhaft Süßweine zu erzeugen. Trockenen, durchgegorenen Weinen wurde vor der Flaschenfüllung steril gehaltener Süßmost, sogenannte „Süßreserve“ zugegeben. Der beigemischte Traubensaft machte die Weine nicht nur süß, sondern kaschierte auch Fehler und Schwächen. Auf Qualitätsaspekte brauchte man also immer weniger Rücksicht zu nehmen. Eine Preisspirale nach unten setzte ein. Immer öfter wurden Spät- und Auslesen für lächerliche D-Mark-Beträge angeboten. Die billig süßen Abfüllungen feierten einen Markterfolg nach dem anderen und die „Liebfrauenmilch“, ein lieblich-süßer Wein auf unterstem Niveau wurde zum Publikumsschlager.
Bitte nur noch trocken!
Diese billig-süßen Kunstprodukte haben nicht nur das Image des deutschen Weins in der ganzen Welt stark beschädigt, sondern hierzulande auch das generelle Ansehen von Weinen aller Süßegrade ruiniert. Selbst die seriösen und qualitativ hochwertigen Vertreter, die sich dem Trend widersetzten, wurden von dem Negativsog erfasst. Spätestens ab Anfang der 1980er Jahre galt: Wer was auf sein Image hält, trinkt trocken. Diese Einstellung verbreitete sich zunächst langsam, dann immer schneller und erfasste schließlich eine ganze Generation „seriöser“ Weintrinker. Auf einem Auge blieben sie dauerhaft blind. Auch heute noch hören die Weinreferenten in ihren Veranstaltungen: „Der ist ja süüüß!“ Und weil er süß ist, fällt er durch, ganz ohne weitere Prüfung.
Die Klassiker sind die Verlierer
Der Typus der leichten, fruchsüßen Weine hatte hierzulande am meisten unter dieser Entwicklung zu leiden. Dabei können gerade diese Vertreter besonders köstlich sein. Da solche Weine nur unter klimatischen Sonderbedingungen möglich sind, genießen die kühlen deutschen Anbaugebiete hier ein weltweites Alleinstellungsmerkmal. Nur wenn kühle Witterungsverhältnisse mit einer langen Vegetationsperiode einhergehen, können vollreife Trauben mit gutem Säureniveau entstehen. Das ergibt lebendige, trinkanimierende Weine mit moderater Süße. Säure als Gegengewicht zur Süße ist entscheidend, damit das Süßeempfinden am Gaumen nicht zu üppig ausfällt oder gar als unangenehm-klebriger Eindruck wahrgenommen wird. Wenn alles passt, befinden sich Säure und Süße in einem wohlproportionierten Gleichgewicht und halten sich wechselseitig in Schach.
Traumhafte Balance
In den kühleren deutschen Weinbaugebieten, allen voran an der Mosel und ihren Nebenflüssen Saar und Ruwer, finden sich die besten Bedingungen für diesen leichten, trinkanimierenden Süßweintyp. Und keine andere Rebsorte kann die natürlichen Umstände dieser Region so gut in edlen Wein umsetzen wie die Rieslingtraube. In der Nase überzeugen diese Weine mit einer enormen Fruchtkomplexität. Noten von Pfirsichen, reifen Äpfeln, frischen Aprikosen und Cassiswerden ergänzt durch zarte Blütendüfte. Am Gaumen beschreiben sie einen faszinierenden Spannungsbogen zwischen delikater Fruchtsüße und animierender, erfrischender Säure und Mineralität. Selbst bei höheren Süßewerten verlieren diese Weine ihre herrlich rassige, temperamentvolle Art nur selten.
Solo oder zum Essen?
Für mich sind diese Weine die idealen Begleiter für stimmungsvolle Abende im Freundeskreis. Sie wecken den Geist und lösen die Zunge und da sie weder satt noch betrunken machen, schadet es nicht, sich ein Gläschen mehr von ihnen zu genehmigen. Nach ein paar Jahren Flaschenreife machen sie auch als Speisenbegleiter eine gute Figur. Die sensorische Präsenz ihrer Süße ist in den Hintergrund getreten und sie trachten nicht mehr danach, dem Essen die Show zu stehlen. Nun sind sie nahezu universell einsetzbar und machen selbst zu klassischen Fleischgängen, besonders zu Wildgerichten mit Waldfrüchten eine gute Figur.
Gegensätze ziehen sich an
Jüngere Vertreter passen zu Gerichten mit kaum merklicher Süße, Saucen mit süßer Sahne, allerlei aus der asiatischen Küche und indische Currys. In Kombination mit würzigen und scharfen Speisen machen diese Weine eine exzellente Figur. Sie nehmen den Gerichten ihre Schärfe, besänftigen sie und wirken dabei selbst geschmacklich fast trocken. Auch zu salzigem Käse und Salzgebäck passen sie hervorragend. Ebenso zu Melone mit salzigem Schinken.
Als Dessertbegleiter ungeeignet
Gute Dessertbegleiter sind diese Weine allerdings nicht. Dafür sind sie einfach nicht süß genug. Allein die Auslesen, deren Süße meist merklich intensiver ist, können Apfelkuchen oder nicht allzu süße Fruchtdesserts perfekt begleiten. Für eine Crême caramel reicht es jedoch auch bei Ihnen nicht.
Top-Jahrgang 2015
Gebt diesen wundervoll leichten, fruchtsüßen Weinen eine Chance! In meinen Veranstaltungen beobachte ich bereits eine Trendwende. Insbesondere die jüngere Generation geht da vorurteilsfreier und ohne Berührungsägste heran. Das sind gute Zeichen. Wer jetzt auf die Suche geht dürfte mit etwas Glück noch das ein oder andere Exemplar aus dem exzellenten Jahrgang 2015 finden.
Lasst es Euch schmecken!