Kulinarische Beobachtungen im Reich der Mitte von Hannes Rehm
Essen spielt im Chinesischen Alltag eine zentrale Rolle. Ein ausgiebiges Frühstück, Mittagessen und Abendessen, jeweils warm und kalt, ist aus dem Tagesablauf nicht wegzudenken.
Dass bei 1,3 Mrd. Einwohnern der Chinese nicht gerne allein isst, versteht sich fast von selbst. So speist man in der Regel im Familienkreis, unter Freunden oder Geschäftspartnern immer in der Gruppe. Und diese Gruppe versammelt sich um einen runden Tisch, in dessen Zentrum sich eine kreisförmige Scheibe befindet, zumeist maschinell oder von Hand in eine rotierende Bewegung versetzt. Eine äußerst praktische Angelegenheit ist diese Tafelrunde, denn so wird die Kommunikation durch den Blickkontakt zu allen erleichtert und jeder behält den Überblick über das Geschehen.
Auf die Kreisscheibe in der Tischmitte werden nun nach und nach einzelne Speisen platziert, und zwar mindestens so viele wie Teilnehmer um den Tisch sitzen. Von dieser Auswahl nimmt nun der Esser mit Hilfe von Löffeln oder Stäbchen etwas auf seinen Teller oder direkt in den Mund.
Bei offiziellen Anlässen sucht sich der Gastgeber einen Platz am runden Tisch aus und platziert nach Wunsch die höchstrangigen Gäste um sich herum. Haben alle einen Platz gefunden, wird vom Gastgeber ein Toast in Form einer kleinen Rede gesprochen. Daraufhin stoßen alle mit den Gläsern an, die mit Wein, Bier oder alkoholfreien Getränken gefüllt wurden. Wird dabei allen ein „Kan bei !“ zugerufen, ist das häufig der Beginn eines Trinkfestigkeitstests, denn auf diesen Ausruf hin müssen alle Gläser „auf Ex“ leergetrunken werden. Da die Gäste in der Regel mit den Lobesreden und dem entsprechenden „Kan bei“ nicht nachstehen, artet dieses Ritual häufig in ein handfestes Trinkgelage aus.
Die chinesische Tafelrunde – ein Fest für die Sinne
Glücklicherweise lenkt die köstliche Auswahl an Speisen vom allzu häufigen Zuprosten ab und der Essensgenuss kann beginnen. Bei der Vielzahl an Gerichten gibt es keine Reihenfolge nach Vor-, Haupt- oder Nachspeise, sondern jeder nimmt sich von dem Teller, der gerade auf der Drehscheibe an ihm vorbeizieht.
Grundzutat praktisch aller Gerichte in China sind Öl, Knoblauch und Chilli, wobei letzterer je nach Dosierung für unterschiedliche Schärfegrade sorgt. Ferner sorgen mal Koriander, Cumin, Curry oder Sojasoße für die Würzrichtung der vielen Gemüse- , Nudel-, Fisch- oder Fleischgerichte. Der Vielfalt sind dabei kaum Grenzen gesetzt, wir konnten im Laufe einer Woche sicher an die hundert verschiedene Essenskombinationen genießen.
Karotten, Chinakohl, Bohnen, Pak Choy, Lauch und Sojasprossen, Bambus, Spinat, Yamswurzeln, Frühlingszwiebeln und Rettich wurden als Salat oder warmes Gemüse gereicht.
In Küstennähe ist die Auswahl an Fisch und Meeresfrüchten – gegrillt, gekocht oder frittiert – fast unüberschaubar, während im Landesinneren mehr Hühner-, Lamm-, Schweine- und Rindfleisch mit unterschiedlichsten Gemüsen, Pilzen und Nüssen kombiniert werden.
Dazu kommen noch Suppen und Eierspeisen, Tofu und natürlich als neutralisierender Begleiter der Reis. Neben Kartoffeln fungieren Dampfnudeln aus Hefeteig, sogenannte Dumplings, mit verschiedenen Fleisch- oder Gemüsefüllungen als delikate Sattmacher. Der Gaumen des Genießers wird mit einer derartigen Vielzahl von Aromen, Texturen und Schärfegraden konfrontiert, dass die Gesprächsrunde sich häufig nur noch in einsilbigen Lauten des Wohlgefallens äußert.
Ob es Zugeständnisse an unsere europäisch geprägten Gaumen gab, was die Schärfe und Zutatenliste angeht, ist schwer zu sagen. Das Fehlen von Hund, Affe, Schlange oder Insekten auf unserem Speiseplan könnte auch auf die regionalen Unterschiede der chinesischen Provinzküchen zurückzuführen sein.
Die in Europa aktuellen Slow Food-Slogans „from head to tail“ oder „from root to flower“, die die vollständige Verwertung von Tier und Pflanze als Nahrungsmittel propagieren, wirken hier in China wie archaische Vorsätze, die man immer schon praktiziert hat. Dennoch wirken geröstete Hühnerbeine als Snack oder der im Topf dümpelnde Kopf eines Hahns mit Kamm und Schnabel auf uns seltsam befremdlich.
Den Nachtisch und Abschluss eines solchen Festessens am runden Tisch bildet neben Obst interessanterweise in den von uns besuchten Teilen Chinas immer eine Nudelsuppe, die selbst bei deutlich spürbarem Sättigungsgefühl immer noch „reinpasst“. Überhaupt stellt sich selbst nach einem üppigen Mahl kaum ein Völlegefühl ein, da jeder die Größe seiner Essensportionen selbst bestimmen kann und die Speisen auf bekömmliche Weise zubereitet werden. Zudem sorgt der ständig nachgeschenkte Getränkefluss nicht nur für angeregte Unterhaltung bei für unsere Ohren gewöhnungsbedürftiger Lautstärke, sondern fördert auf berauschende Weise eine gelingende Verdauung. „Kan bei !“