Das European Cheese Center ist Europas größtes Käsezentrum. Mitten im Anderter Industriegebiet lagern ein paar der feinsten Milcherzeugnisse der Welt. Wo man es am wenigsten vermutet, hält die Hildesheimerin Katrin Heuer Stilton und Gruyère für ihre Gäste bereit – und zu jedem Stück eine köstliche Geschichte.
„Gehen Sie dahin, wo Sie sich wirklich wohlfühlen“,sagt Katrin Heuer, und 21 angehende European Cheese Experts suchen ihren jeweiligen Platz hinter dem meterlangen Käsebüffet: Die Rohmilchfreunde beim Rohmilchkäse, die Hartkäse-Fans nah beim Pecorino, und wer es geschmolzen liebt, geht rüber zum heißen Käse. Seminarleiterin Heuer weiß: So ist die Wahrscheinlichkeit am größten, dass nachher alle die Fragen beantworten können, die die Gäste des Käsezentrums an diesem Abend erwartungsgemäß stellen werden.
„Aber Sie werden sehen“, sagt die 52-jährige Hildesheimerin in die Runde, „die größte Herausforderung für Sie werden heute Abend gar nicht diese Fragen sein. Die größte Herausforderung wird sein, den Käse, der vor Ihnen liegt, so langsam wie möglich zu schneiden.“
Denn die zukünftigen Käse Experten sollen nicht einfach nur untätig auf Fragen warten, sondern beschäftigt wirken. Allerdings nie so beschäftigt, dass sie nicht mehr ansprechbar wären. Die Gäste sollen sich bei der Käse Auswahl zwar unbeobachtet fühlen, gleichzeitig aber das Gefühl haben, sich jederzeit informieren zu können. Viele Wünsche, keine leichte Aufgabe. Doch wer Cheese Expert werden will, braucht genau dieses Feingefühl.
Heuer hat es. Sie ist, scheint es, die Ausgewogenheit in Person. Wenn sie sich an ihr Seminar wendet, spricht sie laut, aber nur gerade so laut, dass auch der Letzte sie versteht. Ist es ein Gespräch unter vier Augen, versteht nur derjenige sie, mit dem sie spricht. Ihre Gesten, ihr Lachen, ihre Art, ruhig und dennoch pointiert zu erzählen, all das scheint sie im Idealmaß zu haben für den Service in der Gastronomie.
Kein Wunder. Inder Branche ist sie zuhause, seit sie miit dem Abitur in der Tasche die Schule im Taubertal verließ. Obwohl, nicht ganz: Erstmal dachte sie darüber nach, Skilehrerin zu werden.„Animateurin hätte mir auch gefallen“, sagt sie, „damals wusste ich ja noch nicht, dass man mit diesem Job bei vielen als Zivilversager gilt“. Also als jemand, der den Beruf nur ergriffen hat, weil er keine Alternative dazu hatte.
Stattdessen fing sie in einem Restaurant an. Nein, in dem Restaurant schlechthin, in der hochgelobten „Traube Tonbach“ im kleinen Schwarzwaldort Baiersbronn. Mit ihrem akademiefähigen Zeugnis wollte man sie da aber gar nicht annehmen. „Da habe dem Chef gesagt, das Abitur, das war doch nur ein Versehen.“ Heuer durfte bleiben.
Und landete mitten in einer Welt der Köstlichkeiten, des gehobenen Genusses, der teuren Weine und der Art von Gästen, die sich all das leisten können. „Meine Kollegen in der Ausbildung waren die Kinder von Leuten wie Roberto Blanco oder Dieter Thomas Heck.“ Wer hingegen zu Gast war, darüber würde sie nie sprechen. Diskretion ist im Service inbegriffen.
Apropos. „Sie müssen aufpassen“, sagt die Käse-Sommelière Heuer, „nicht jeder darf alles essen. Schwangere dürfen zum Beispiel
keinen Rohmilchkäse. Aber machen Sie bloß niemals den Fehler“ – sie legt eine Hand über die Augen, als wollte sie sich verstecken – „eine Frau zu fragen, ob sie schwanger ist. Sowas kann ganz schnell mal böse daneben gehen“. Die Schüler lachen, sie haben verstanden: Heuer spricht aus Erfahrung.
„So, gleich kommen die Gäste“, sagt sie zu ihrer Mannschaft, als sie
noch einmal das aufgebaute Büfett betrachtet, „hoffentlich“. Eine Anspielung auf die Lage des Käsezentrums mitten im Industriegebiet von Anderten. Heuer weiß, dass sich Leute manchmal fragen, ob sie nicht versehentlich die falsche Adresse ins Navi eingegeben haben. „Hier soll das Käsezentrum sein? Mitten im Industriegebiet? Scheint ja eine tolle Veranstaltung zu sein.“
Die Verwirrung liegt daran, dass das Käsezentrum zwei ganz unterschiedliche Bereiche bedient: Zum einen lagern in einer riesigen Halle ingesamt 2300 Sorten Käse mit denen Kunden aus ganz Europa beliefert werden, unter anderem das Berliner KaDeWe.
Zweitens aber ist da dieser kleine Anbau, der Teil des Zentrums, in dem Heuer Menschen aus ganz Deutschland in Seminaren zu European Cheese Experts oder zu Käse Sommelières ausbildet. Als Verkäufer bringen sie schon Erfahrung mit – bei Heuer bekommen sie die Feinheiten des Geschäfts mit auf den Weg. Zum Beispiel auf einer Käseverkostung, wie sie an diesem Abend stattfindet.
Die Gäste staunen. Nach dem Schreck auf dem Parkplatz finden sie sich drinnen in einem detailliert nachgebauten Käsedorf wieder.
Oder vielmehr: in mehreren. Eine kleine Alpenhütte für die Schweiz, ein Häuschen für Frankreich, eins für Italien. „Das ist ja toll hier“, sagt eine Frau, ohne zu bemerken, dass ihr Mann schon längst weitergegangen ist, eine andere liest dem Herrn neben sich jeden Käse mit Namen und Eigenschaften vor. „Ist ja seltsam“, sagt sie, „was es alles gibt“.
Auch auf dem meterlangen Büfett sieht mancher Käse gar nicht wie Käse aus. Da sind Laibe, deren Rinde erinnern an Holz. Eine Sorte sieht aus wie Seife. Andere wie Brot, wie Früchtekuchen, wie schmelzende Eiscreme oder wie wie Ziegelsteine.
Das Käse-Farbspektrum reicht von blau-lila bis rot-orange, von grün bis schneeweiß. Da sind Sorten mit Blüten und Kräutern und Cranberries und Schimmelpilzen drin, da sind welche mit geräucherter, gebrühter, in Wein gereifter Rinde. Da ist Käse aus den Alpen, aus Tälern, aus Sardinien und aus dem Harz, kalte Käse und heiße.
Dabei sind die ganz exotischen Sorten, wie Käse-Sommelière Heuer sagt, noch gar nicht auf dem Tisch. Die zum Beispiel, die von Milben gemacht wird. „Den müssen angehende Käse-Sommeliers hier bei uns probieren, ob sie wollen oder nicht“, erzählt Heuer. „Das ist der Grusel-Härtetest.“
Und dann ist da noch diese eine Sorte aus dem Königreich Bhutan, die der Chef von einer Reise mitgebracht hat. „Der ist so eingelegt,
dass er kein Verfallsdatum mehr hat.“ Das mit dem Verfallsdatum ist ohnehin so eine Sache, sagt Heuer. „Käse ist sowas wie die Ewigkeit der Milch.“
Sie beobachtet ihre Seminar Schüler am Büfett und lächelt in sich hinein: Wie sie hier wiederholen, was sie im Unterricht gelernt haben. „Der geschmolzene Käse“, sagt eine junge Frau eifrig zu einem älteren Gast, „das war ja praktisch die Erfindung des Fondues“. Die Mönche, erklärt sie ihm, die lebten die meiste Zeit des Jahres von Brot, Wein und Käse. In der Fastenzeit aber war Käse als feste Nahrung verboten. Es dauerte nicht lange, bis einer von ihnen auf die Idee kam, den Käse zu schmelzen und so das Verbot zu umgehen. „Diese Füchse“, sagt die Frau halb spöttisch, halb anerkennend, und der Mann lacht laut, während er mit seinem Teller an den Tisch geht.
Wenn Katrin Heuer wollte, könnte sie wahrscheinlich die Geschichte der Menschheit anhand von Käsesorten erzählen. Sie könnte vom Lab erzählen, der lange vor unserer Zeitrechnung in Mesopotamien aus dem Mageninhalt erlegter Jungtiere gewonnen wurde. „Die Tiere hatten Milch getrunken, die durch die Verdauung zu einer Art Käse wurde, und weil Menschen damals die Tiere ganz aufaßen, entdeckten sie irgendwann das käsegewordene Mageninnere.“
Und sie könnte irgendwann dazu übergehen, zu erzählen, welchen Käse sie selbst als Sommelière wirklich zu schätzen weiß. „Och, nichts
Übertriebenes“, sagt Katrin Heuer. „Blattgold muss für mich zum Beispiel nicht unbedingt sein. Und Trüffel eigentlich auch nicht.“
Toll hingegen – wenn auch teuer– sind für sie handgemachte, lange gereifte Käse, wie Heuer sagt. „Diese kleinen, handwerklichen Käsereien, die sind schon großartig.“ So ein Käse kann gar nicht günstig sein. Wer in die Herstellung und die Lagerung so viel Zeit investiert, überlegt Heuer, wie bringt der das dann bloß übers Herz, sich von seinem Käse zu trennen und ihn zu verkaufen?
Dass sie manchmal malt, sagt Heuer plötzlich ohne erkennbaren Zusammenhang, und dass es ihr Traum ist, Wolken in Aquarell zu
malen. „Nicht dass ich besonders gut bin. Aber ich mache es sehr gern, es bedeutet mir viel, und ich könnte meine Bilder, glaube ich,
nicht verkaufen.“ Jedenfalls nicht so, scheint sie zu meinen, wie die Käsemanufakturen ihren Käse verkaufen.
Nichts sollte im Käseland einfach zu Verkauf gemacht sein, sondern stets mit Genuss, mit Verweilen, mit Genau-Hinsehen verbunden sein,
wenn es nach Katrin Heuer ginge. „Deswegen sind Käseliebhaber toll. Die sind pauschal toll, die bringen was Wunderbares mit: Leidenschaft
und Intellekt.“